Das Kuhfladenroulette
Kurzgeschichte von Mike Bartel Der Landwirt setzte ein bedeutungsschwangeres Gesicht auf und ließ die Kuh los. „Rinne wah plü", schrie er in die gaffende Menge, worauf das Rind entsetzt zur Seite sprang. Das tut es normalerweise nicht, doch was war heute schon normal? Rinne wah plü, so etwas hört man so gut wie nie im Kuhstall, dachte die Bäuerin, die hilflos daneben stand. „Rinne wah plü? Heute muss ein besonderer Tag sein", kombinierte sie messerscharf und lag prompt richtig. Angefangen hatte es schon damit, dass der Bauer am Morgen seine Lieblingskuh gewaschen und gekämmt hatte. Sogar einen Zopf hätte er ihr geflochten, wenn er nicht zu ungeschickt dazu gewesen wäre. Dann setzten sich die beiden Richtung Sportplatz in Bewegung. Die Kuh trug es mit Fassung und der Bauer seinen schönsten Anzug. „Rinne wah plü" - die Worte hatte er heimlich im Stall geübt, um damit seiner Frau und Hunderten ungläubig dreinblickender Zuschauer imponieren zu können. Einige wenige wandten sich wissend ihren Nachbarn zu: „Er meint: Nichts geht mehr." „Und was will er damit sagen?", rätselten die völlig Unbedarften unter den Dorfbewohnern. „Soll die Kuh auf die Schlachtbank?" „Nein, auf die Spielbank", lachten die anderen. „Ach so. Na dann", brummte es zurück. Selbst denen, die noch nie ein Casino von innen gesehen hatten, wurde nun langsam klar, dass sie in diesem Moment Augenzeugen eines tierischen Ausläufers des bekannten Glücksspiels wurden. Es handelte sich um nichts anderes als ein Kuhfladenroulette. Die Regeln sind leicht zu begreifen: Statt einer Kugel wird die Kuh zum Rotieren gebracht. Aber nicht dort, wo sie liegen bleibt, sondern dort, wo sie etwas fallen lässt, befindet sich das Glücksfeld. Alle Einsätze waren längst getätigt, als der Wiederkäuer sich widerwillig und - nach dem ersten kurzen Schrecken - ausgesprochen gemächlich in Bewegung setzte. Das Glück der Erde lag zu diesem Zeitpunkt nicht auf dem Rücken der Pferde, sondern im Darmausgang einer blöd vor sich hin glotzenden Kuh. Einige hundert Mark winkten dem Wettkönig, der auf das richtige Stück Rasen gesetzt hatte. Inzwischen schienen tatsächlich alle das Spiel begriffen zu haben. Nur nicht die Kuh. Die schritt gelangweilt, wenn nicht sogar desinteressiert die Zuschauerreihen ab, fast so wie es Staatsgäste bei militärischen Empfängen am Flughafen zu tun pflegen. Bloß langsamer, denn selbst ein dummes Rindvieh weiß, dass es - im Gegensatz zu Staatsgästen - anschließend nicht in einem Fünf-Sterne-Hotel dinieren wird. „In meinen alten Stall komm' ich noch früh genug zurück", schien sie sich zu denken. Ein kleiner Junge krähte „Mami, ich muss mal aufs Klo", doch die nervös wirkende Mutter rief ihn zur Ordnung und lauthals heraus: „Nicht du sollst kacken, sondern die Kuh." Der Opa sah sie missbilligend an. „Es ist halt doch nicht so einfach, mit Scheiße Geld zu verdienen", brummte er, „und mit Kuhscheiße schon gar nicht." Das wiederum erzürnte den Vater, der intensiv aber erfolglos seine Kinder davon zu überzeugen versuchte, dass Scheiße im Urzustand aus dem Hintern einer Kuh, nicht aber als Wort aus dem Munde von anständigen Menschen zu kommen habe. In diesem Moment blieb die Kuh regungslos stehen. Sie kaute nicht mal mehr, sondern hielt Maul und Augen fest geschlossen. Einige Leute unterhielten sich darüber, ob Kühe im Stehen schlafen, wie viele Stunden das wohl dauern würde und wie lange sie es ohne zu Kacken aushalten könnte. Etliche frühere Stadtmenschen schüttelten verwundert den Kopf. Einige unterhielten sich über den Tierschutz. An manche Ohren drang der Satz „Auch die Würde eines Rindviehs ist unantastbar." Die Organisatoren pinkelten sich vor Aufregung schier in die Hosen, doch das hätte auch nicht geholfen, weil selbige nicht wie der Rasen in Felder unterteilt waren, auf die man hätte Geld setzen können. Nach zwei Stunden kam man überein, das nächste Mal diese Kuh nicht mehr zu nehmen. Nach zweieinhalb Stunden erschien jemand, der sich als Mitglied von Greenpeace zu erkennen gab und die Kuh aus der Nähe sehen wollte. Nach drei Stunden beschloss man, das Roulette auf andere Art und Weise als durch einen Kuhfladen zu beenden. Weil praktisch alle ein paar Mark auf eines der Felder gesetzt hatten, fand sich aber kein neutraler Mensch, der die Sache zu Ende hätte bringen können. Jemand rief im Rathaus an. Der Bürgermeister musste her. Er war ein intelligenter Mensch. So fand er auch gleich die ideale Lösung. Alle gingen glücklich und zufrieden nach Hause. Zuvor aber mussten sie ein Versprechen abgeben: Sie durften keiner Menschenseele verraten, wie der Bürgermeister das Kuhfladenroulette ohne Kuhfladen beendete. Und bisher hielten sich alle daran. Vier oder fünf haben das Geheimnis sogar schon mit ins Grab genommen. Rinne wah plü. |
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